Zwei Wochen, vier Tandems, acht blinde, sehbehinderte und sehende Fahrer, hunderte Kilometer quer durch Kuba. Und das alles für einen guten Zweck: Der Verein Tandem-Hilfen will das Tandemfahren als integrative Sportart auf der Karibikinsel bekannt machen und blinde und sehbehinderte Schüler unterstützen.
Dr. Thomas Nicolai berichtet von der Tour im Januar 2015.
„Ihr seid verrückt! Keine Radwege, kaputte Straßen, viel zu heiß!“ – Skepsis schlug uns entgegen, als wir Freunden und Bekannten von unserem Vorhaben erzählten. Aber ein sinnvolles Projekt lässt man sich nicht so leicht ausreden. Ein Jahr lang sammelten wir Spenden, gewannen Förderer und recherchierten Schulen für blinde und sehbehinderte Kinder auf Kuba. Denn unsere vier und weitere zehn gespendete Tandems sowie die gesammelten Hilfsmittel sollten am Ende der Tour den Schulen übergeben werden. Nach elf Stunden Flug kamen wir am 13. Januar in Varadero an der kubanischen Nordküste an. Natürlich wollte der Zoll wissen, was in den überdimensionalen Kartons steckte, gab sich aber mit einer kurzen Erklärung zufrieden. Mit unserem Reiseführer Alberto fuhren wir in einem großen Reisebus, der uns auch später zur Verfügung stehen sollte, nach Havanna, dem Startpunkt unserer Tour.
Ja, in Havanna kann man tatsächlich Tandem fahren. Taxifahrer Toni, der uns während unseres Aufenthalts in der Hauptstadt begleitete, fuhr voran und schirmte uns auf diese Weise ab. Sobald man sich an die Lautstärke der zahllosen schrottreifen, knatternden Fahrzeuge, deren Abgase und an die chaotischen Straßenverhältnisse gewöhnt hatte, funktionierte es bestens. Angesichts der teils riesigen Schlaglöcher, aus denen man als Radfahrer wohl nicht unbeschadet herauskäme, blieb allerdings ein mulmiges Gefühl. Unsere erste Tour führte zum Institut für Völkerfreundschaft. Dorthin waren wir hochoffiziell eingeladen worden und hörten einen politischen Vortrag. In Havanna haben wir außerdem eine Schule für blinde und sehbehinderte Kinder besucht. Wir waren erstaunt über die gute strukturelle Versorgung der Schüler – auf Kuba offenbar Standard, wie sich später bestätigen sollte.
Unterwegs stellten wir fest, dass es in Havanna unzählige Denkmäler und Skulpturen gibt. In einer Pause ließen wir uns neben Beatles-Star John Lennon, der in Bronze gegossen auf einer Parkbank sitzt, fotografieren. In der Altstadt fanden wir kunstvoll restaurierte Gebäude und hoffnungslosen Verfall dicht beieinander. Auf der alten Festung erinnert der allabendliche Kanonenschuss an die Abriegelung der Stadt zu Zeiten, da mit Kostbarkeiten beladene Schiffe im Hafen Schutz vor räuberischen Angriffen suchten. Obwohl wir rund fünf Kilometer an der Ufermauer der Stadt entlangradelten, erwischte uns keine der aufspritzenden Wellen. Schade, eine kleine Abkühlung hätte bei den hochsommerlichen 30 Grad gut getan.
In Richtung der Provinz Pinar del Río nahmen wir die so genannte Autobahn – vergleichbar eher mit einer deutschen Landstraße. Die Autos auf den zwei Spuren in jede Richtung dürfen nicht schneller als 100 Stundenkilometer fahren und am Straßenrand bieten Bauern ihre Waren an. Den Randstreifen mussten wir uns gelegentlich mit Pferdegespannen teilen. Bei einem Stopp an einer Raststätte tankten wir kühles Bier und Saft und bei einem Abstecher zu einem Tabakbauern verkosteten zwei von uns selbstgefertigte Zigarren. Dann wurde es hügelig. Die Nebenstraße, die uns zu unserem nächsten Etappenziel führte, hatte es in sich. Aber nach insgesamt 75 Kilometern hatten wir es geschafft und konnten unseren Aufenthalt im Naturschutzgebiet Las Terrazas umso mehr genießen.
Die Tour ging auf einer Schotterstraße über eine Hügelkette weiter nach Soroa. Als es hieß, ab hier geht es nur noch bergauf, verschwanden die Tandems im Bus. ImNachhinein bedauerten wir das, denn nach dem kräftigen Anstieg rollten wir eine malerische Strecke hinunter ins Tal. Auch in Soroa, berühmt für seinen Wasserfall und einen exotischen Orchideengarten, waren wir der Natur sehr nah. Gerne hätten wir länger verweilt, doch wir durften unsere Mission nicht aus den Augen verlieren.
Vor der Weiterfahrt in die gleichnamige Provinzhauptstadt Pinar del Río gab es die erste und einzige Reifenpanne. Das Tandem hatte es uns wohl übelgenommen, dass es im engen Unterbau des Busses verstaut worden war. Unsere Fahrer glaubten nicht, dass wir die Tagesetappe von 85 Kilometern auf den Rädern zurücklegen wollten. Doch schließlich waren wir hier, um Tandem zu fahren. Wir lieferten uns kein Rennen, sondern fuhren gleichmäßig und wechselten mit der Führung ab. Der Bus blieb für den Notfall hinter uns, doch alle zeigten gute Kondition. Am Ende stand der Tacho bei 92 Kilometern und mit Rückenwind waren wir ziemlich schnell unterwegs.
Neben dem touristischen Programm war unser Ziel die Blinden und Sehbehindertenschule José Martí in Pinar del Río. Wie in der Blindenschule in Havanna konnten wir uns auch hier vom hohen Stand der sonderpädagogischen Erziehung und Bildung überzeugen. Die Schule arbeitet sehr eng mit dem regionalen Blindenverband zusammen und will sich mit Veranstaltungen und Ausstellungen als inklusives, kulturelles Zentrum der Stadt etablieren. In der Schule lernen die Kinder das Punktschriftlesen, die Nutzung ihres Restsehvermögens, Mobilität sowie soziale Kompetenz, um in eine Regelschule integriert werden zu können. Sonderpädagogen, Psychologen, Augenärzte und Mobilitätslehrer arbeiten zusammen und beziehen die Familien der Kinder mit ein. Betreuungslehrer kümmern sich um die Schüler, die an Regelschulen lernen. Kleinkinder erfahren in der Früherziehung eine spezielle Betreuung.
Die materielle Ausstattung der Schulen zeigte hingegen Bedarf in vielerlei Hinsicht. Es fehlt an Punktschriftmaschinen und Langstöcken, für einen Thermokopierer ist nicht genügend Spezialpapier vorhanden. Einige Computer mit Sprachausgabe gibt es zwar, Braillezeilen aber nicht. Ein Bildschirmlesegerät steht nur einer Orthoptistin für Übungszwecke zur Verfügung.
Unsere Räder wurden zunächst gründlich begutachtet. Niemand hier hatte jemals vom Tandemfahren gehört, geschweige denn eines gefahren. Über Dolmetscher erklärten wir die Besonderheiten und wie das Zusammenspiel zwischen Pilot und Co-Pilot funktioniert. Bei den Probefahrten waren Schüler und Lehrer mit Begeisterung dabei. Leider waren die Hilfsmittel, die wir per Container auf die Reise geschickt hatten, noch nicht eingetroffen, so dass wir die Spenden nicht persönlich übergeben konnten. Unsere vier Tandems übergaben wir aber, wie geplant, am Ende der Tour der Schule in Havanna. Wir sind gespannt, wie sich das Tandemfahren an den Schulen als Sport- und Freizeitmöglichkeit entwickeln wird. Wie in Deutschland auch wird es davon abhängen, welches Engagement Lehrer, Erzieher und Eltern aufbringen.
Ohne unsere Tandems fühlten wir uns in den letzten Tagen in Varadero, die wir als ganz gewöhnliche Touristen verbrachten, etwas verloren. Wir waren uns einig: Bald sollten wir wieder nach Kuba reisen, um zu sehen, was aus „unseren“ Tandems geworden ist.
Dieser Beitrag ist erschienen in: Die Gegenwart, Magazin des DBSV, April 2015
Zur weiteren Unterstützung von Blinden und Sehbehindertenschulen in Kuba freut sich Tandem-Hilfen über Spenden von Blindenschriftschreibmaschinen, Blindenschrifttafeln und -griffeln, tastbaren Uhren und Langstöcken (auch kleinere für Kinder).