Tandem-Sternfahrt 2012 erregte viel Aufsehen in Berlin
Fraitagsstress. Ich will nach Hause – und das schnell! Dauert wieder mal ewig, bis die Ampel uns Fußgängern in der Neuköllner Karl-Marx-Straße Grün zeigt. „Bitte betreten Sie nicht die Fahrbahn; es folgt eine Fahrradkolonne!“ Das ist laut und deutlich und kommt aus dem Lautsprecher eines Polizeiautos.
Schon schwirren etliche beamtenbesetzte Motorräder heran. Und dann staune ich nicht schlecht: Eine rund 600 m lange Tandemschlange rollt an mir vorbei, begleitet von etwa einem Dutzend profihaft aussehenden Einzelradfahrern mit weißer
Armbinde. Die scheinen das leuchtend grün beshirtete Tandemfeld zusammen zu halten. Auf dem Rücken eines Tandemfahrers erkenne ich neben unleserlichen Punkten tandemsternfahrt.de, dann huschen noch
Autos mit Blindenabzeichen vorbei. Und weg sind sie.
Wo kommen die denn alle her? Und wo wollen die hin?
„Toni, komm mal rüber, deine Tandemschlange ist in der Abendschau.“ Als ich ins Wohnzimmer komme, sind die Tandems schon durch. Aber inzwischen bin ich schon ein bisschen schlauer, denn die Web-Adresse
hatte ich mir gemerkt.
„Gemeinsam geht alles!“ – das war das Motto der Tandem-Sternfahrt 2012. 100 Tandemteams mit blinden und sehbehinderten Copiloten und sehenden Piloten sollten zum 100. Geburtstag des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes nach Berlin kommen. Schließlich waren es 130. Sie waren aus allen Landesteilen gekommen. Bereits am 26. Mai waren Ewald Heck und Christiane Basler in der Nähe von Bonn gestartet, um nach 650 km am 31.05. in Berlin einzutreffen, ebenso die Gruppe des Offenbacher Tandem-Clubs.
Die weiteste Anreise hatten allerdings Natalia und Nikolay Pisarenko aus Rostow am Don (Russland). Außerdem waren Tandemfahrer aus Lettland, den Niederlanden, Polen, aus der Schweiz und aus Tschechien dabei.
Zwei Tage später fallen mir bei der Fahrradsternfahrt des ADFC einige grüne Fahrradshirts auf – Tandems aus „meiner“ Schlange. Ich klemme mich im Gewühl der 150.000 Teilnehmer an ihr Hinterrad und lasse meiner Neugier freien Lauf.
Ich lerne dazu, erkenne das Tandem als Symbol für Inklusion und Gemeinsamkeit. Höre vom Verein Tandem-Hilfen e.V., der die Idee zur Tandem-Sternfahrt hatte und diese mit einem kleinen Organisationsteam perfekt umsetzte. „Die Tandemsternfahrer sind begeistert. „Alles hat auf die Minute geklappt. 50 km durch Berlin. Die Stadt einmal auf diese
Weise zu erleben – geil! Und an den Haltepunkten perfekte Versorgung. Die Strecke war ja schon vorher im Internet zu lesen und zu hören, teilweise mit Audiodeskription. Am Tempodrom dann der Empfang beim Louis-Braille-Festival – was ganz Tolles!“
Ja, einige Autofahrer hätten gemeckert, weil sie ausgebremst wurden, aber die meisten haben Beifall gespendet. Und für die Berlin-Besucher sei die Sternfahrt die Attraktion schlechthin gewesen. Alle Fotoapparate hätten sich auf den bunten Tross gerichtet.
„Einen Riesendank an die Organisatoren, an die Polizei, die für uns jede Kreuzung abgesperrt hat, an die Helfer vom Berliner Radsportverband, und an die Koordinierungsstelle von Tandem-Hilfen e.V.“
Der Vereinsvorsitzende von Tandem-Hilfen e.V., Dr. Thomas Nicolai, freut sich über den Erfolg: „Wir haben nicht nur für Inklusion geworben, sondern auch für das Tandemfahren“, sagt der 61-jährige Journalist. „Vielleicht gelingt es uns, bei einer nächsten Aktion mehr Bildungseinrichtungen für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche einzubeziehen, denn außer Neuwied, Duisburg, Chemnitz und Berlin waren keine vertreten. Die dabei waren, nehmen aber – wie alle anderen – die Begeisterung mit nach Hause, und das ist gut so.“
Toni Schreiber