Ich hätte nie gedacht, dass mein erstes aktives Jahr so interessant und voller Überraschungen
sein würde.
Klar, das erste Aha-Erlebnis war, dass ich zu einem Tandem gehören sollte. Donnerwetter, meine Geschwister beneideten mich schon, bevor ich auf Tour ging. Und ganz außergewöhnlich fing es an. Während ich mich – auf Hochglanz poliert – auf anerkennende Blicke eingestellt hatte, wurde ich feinfühlig betastet, denn ich war in die Hände von blinden und sehbehinderten Tandem-Fahrern gefallen. Die hatten schon viel von mir gehört und mit viel Ausdauer dafür gerungen, dass ich den neu zu erwerbenden Doppelsitzer durch meine schwungvollen Antriebsmöglichkeiten komplettiere. Und was soll ich euch sagen; nach einer Tandem-Saison kann ich behaupten: Ich habe all meine Fähigkeiten genutzt, um hilfreich zu sein; schließlich ging es ja auch um Inklusion.
Nachdem ich gründlich untersucht worden bin, hörte ich bereits die erste Anerkennung, die ein blinder Stoker ganz beiläufig seinem Piloten sagte: „Da kann ich ja selber mal eine Panne beheben, mit der R.S. geht das Rausnehmen und das Einbauen des Hinterrades doch ganz einfach, und überhaupt; viel zu putzen ist da auch nicht dran. Selbst Regen scheint der nichts auszumachen“.
Die R.S. bin ich, und ich werde immer nur mit dem Nachnamen angesprochen – Rohloff. Dass man zur Erklärung Schaltung noch dazu sagt – okay. Ich konnte an verschiedenen Orten mein Können unter Beweis stellen: zunächst beim Tandem-Frühling im Spreewald. Wenn eine Gruppe von 15 Tandems unterwegs ist, wird öfter auch mal angehalten. Dass der Tandem-Pilot im Stand dann gleich den gewünschten Gang einstellen kann, fanden alle toll. Und der blinde Co-Pilot hörte sogar das leise Klicken und konnte sich so schon gut auf das Anfahren einstellen. Auch bei sandigem Untergrund gab ich so mein Bestes.
Richtige Berge gab es dann rund um Meiningen in Thüringen. Das Schalten am Berg, für mich natürlich kein Problem und für das Tandem-Team, das zum ersten Mal gemeinsam fuhr, eine Erfahrung besonderer Art, denn gerade wenn man nicht genau weiß, wie kräftig der Partner reintreten kann, bin ich ein Schatz. Und bei Tandem-Hilfen e.V. sind blinde und sehbehinderte Co-Piloten oft mit Piloten unterwegs, die sich zuvor noch nicht kannten. In diesen Fällen bin ich teambildnerisch tätig, worauf ich ganz schön stolz bin.
An der Ostsee kam uns ständig der Wind entgegen. Ein Glück, dass im Vorderrad Kollege Motor solidarisch war. Im Übrigen harmonieren wir auch sonst sehr gut. Manchmal ärgert er sich, wenn im 14. Gang mal Tempo gemacht wird und er sich bei 25 km/h resignierend ausschalten muss.
In Gifhorn und Umgebung konnte das Team, mit dem ich dort unterwegs war, mal so richtig auskosten, wie gleichmäßig und dadurch harmonisch meine Übersetzungsleistung gesteigert werden kann. Das führt offenbar dazu, dass aus zwei Leuten auf einem Tandem recht schnell ein Team wird.
Auch im Senftenberger Seeland konnte ich meine Variabilität ausspielen. Der Tandem-Pilot sagte nur: „Es geht jetzt bergauf, offenbar eine ehemalige Abraumhalde; 12 Prozent Steigung“. Dass dann wirklich der zweite Gang mal Arbeit kriegte; der sehbehinderte Co-Pilot hatte den Berg natürlich erst richtig gespürt, als es ernst wurde. Auch hier konnte ich helfen.
Und dann das Treffen der Anfänger, „Tandem-Schnuppern“ genannt. Wieder Pilot und Co-Pilot zum ersten Mal auf einem Tandem, und der Co-Pilot ist vorher überhaupt noch nicht Tandem gefahren – schnuppern eben, wie das so geht. Und was soll ich euch sagen: Vielleicht klingt das jetzt eingebildet, aber ohne meine Vorzüge hätte manches Team sicher länger gebraucht, um in Tritt zu kommen.
Eigentlich bin ich ja nicht gerade ein Vereinswesen, aber bei Tandem-Hilfen e.V. fühle ich mich total wohl und vor allem am richtigen Platz, denn helfen, das ist mein Ding. Dass ich dann auch noch einer Vorfahrin begegnet bin, hat mich im Leerlauf noch angenehmer surren lassen. War doch tatsächlich ein Tandem dabei, dass – ausgestattet mit einer meiner Schwestern schon seit 18 Jahren unterwegs ist und in dieser Zeit nicht nur Deutschland, sondern auch Paris, Rom, Athen, St. Petersburg und all die Städte kennengelernt hat, die am Wege lagen.
Alterserscheinungen zeigt sie noch immer nicht. Sie schaltet und waltet wie eh und je.
aufgeschrieben von Thomas Nicolai